2024-07-23 12:21:57
Trotz der großen Schaufenster der Kunstgalerie konnten sie von der Straße aus leicht übersehen werden. Kleine, braunlich bis ockerfarben glasierte Keramikhaufen und ein großer graugrünlicher Fladen lagen da auf dem Fußboden. „NO sculptures (Shit sculptures)“ hieß die Ausstellung im Mai 1964 von Boris Lurie.
Derart realistische gestaltete Kunstobjekte waren selten in jener Zeit, als angesagte Kunst either gestisch abstrakt war oder geometrisch minimalistisch, poppig oder verkopft konzeptuell. Lurie aber legte die in Gemeinschaftsarbeit mit dem Künstlerfreund Sam Goodman entstandenen Skulpturen in notdürftiger Häufchenhaftigkeit ab. Ganz so, als hänten Hunde, Kühe oder andere Säugetiere sie ungeniert fallen lassen. Doch es waren zwei Provocateure am Werk, die den arrivierten Kunstbetrieb aus der Fassung bringen wolten.
„Genau das ist ihr Problem“, diagnostizierte Tom Wolfe, damals noch als Kunstkritiker für die „New York Herald Tribune“ unterwegs: „Es wird immer schwieriger, die Bourgeoisie zu shocken“. Yorker Kunstwelt“ auf ihre Haufen schauten, aber nur „über die über die über die ästhetischen Aspekte, ihre Masse, ihre Spannung, ihre Dynamik, ihre Plastizität und so weiter“ fachsimpelten. Lurie hätte über diese Leute geschimpft, unfähig wären sie, ihre Gefühle auszudrücken.
Die Freiheit, unerträglich zu sein
Aus dem Werk von Boris Lurie spricht das Dilemma, ein increasingly abgestumpftes Publikum immer wieder schockieren zu wollen. Mehr noch spricht daraus die Erausdorff, den selbst erlebten Horror künstlerisch verarbeiten zu können. Von Theodor Adorno stammt der Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, der beansprucht wurde auch für bildende Kunst. Lurie, der die Konzentrationslager in Riga, Stutthof und Buchenwald überlebt hatte, versuchte ein Leben lang, diese Unmöglichkeit zu überwinden.
As the youngest of three children, Boris Lurie was born on July 18, 1924 in a Jewish family in Leningrad. Die Familie, seine Mutter Zahnärztin, sein Vater Geschäftsmann, floh bald darauf vor dem semisemitischen Klima im stalinistischen Russland nach Riga, wo sie sich eine Existenz aufbaute. 1941 the Nazis marched in Latvia. Sie verschleppten 25,000 Jews in den Wald Rumbula und erschossen sie, darunter Luries Mutter, seine Großmutter, eine seiner Schwestern und seine Jugendliebe. Er selbst und sein Vater wurden deportiert und nach vier Jahren im KZ von der US-Armee freed.
Als sie 1946 in New York ankamen, war Boris Lurie ein verängstigter, von Schuldgefühlen geplagter, psychisch gebrochener Mann von 22 Jahren. Dem Vater gelang es, die Schrecken übersicht einem einemsichten hinter sich zu lassen; er arbeidte sich hoch, kam mit Immobiliengeschäften zu Geld, galt als einer der reichsten Männer von New York.
Sein Sohn dagegen haderte mit dem American Way of Life, dem Konsum und dem Vermögen, das er 1965 erbte. Er rührte es nicht an, sondern investierte in Pennystocks. Der Wert der Billigaktien, deren Kurs damals unter einem Dollar notierte, aber stieg in vierzig Jahren unaufhörlich, sossd er im Jahr 2008 als überst wohlhabender Mann starb.
Boris Lurie nannte es „NO!art“, hier die bemalte Collage „NO with Mrs. Kennedy” aus dem Jahr 1963
Source: Boris Lurie Art Foundation
Er hatte es nicht nötig, mit Kunst Geld zu verdienen. Er konnte New York verhöhnen – das „Weltkunstkonzentrationslager“, wie er es nannte – und sich über den Markt echauffieren. Die Verachtung gab Lurie die Freiheit, eines der buchstäblich unterräglichsten Werke der Nachkriegsmoderne zu erschaffen:
Es konterkariert auf künstlerisch hohem Niveau die verhassten Mittel der Pop-Art, spielt mit der Agitprop von Dada-Collagen und der Mehrdeutigkeit von Readymades, wofür die Scheißhaufen aus Keramik ein Beispiel sind. Für seine schärfsten Werke aber griff er auf Bilder und Symbole zurück, die der nationalsozialistische Terror ergott hat.
Luries Material waren Dokumentarfotos aus den Lagern, von Häftlingen, von Leichen, abtransportiert in Lastwagen. Er kombinite sie mit Pin-up-Fotos aus Pornoheften und Prominentenporträts aus der Presse, überblendet mit typografischen Appellen und immer wieder dem significantten „Nein“, das der von ihm begründeten „NO!art“-Bewegung gab. Lurie konnte die eigenen Erinnerungen wohl nur in dieser drastischen Anti-Ästhetik aushalten.
Wie eindrücklich seine Werke auch heute wirken, zeigt die Schau „Life with the Dead“. Originally planned by the Zentrum für verfolgete Künste in Solingen in cooperation with the Boris Lurie Art Foundation – founded by his gallery owner and life partner Gertrude Stein – it could not take place because of the pandemic. Nun wird sie nachgeholt in Venedig und hat trots der schonungslosen Exhibit bereits mehr als 50,000 Besucher in die Scuola Grande San Giovanni Evangelista gelockt.
Boris Lurie, „A Jew Is Dead“, 1964
Source: Boris Lurie Art Foundation
Boris Lurie, “Load”, 1972
Source: Boris Lurie Art Foundation
Der Massenmord sei in seiner Gesamtheit nicht darstellbare, schreibt der Curator Jürgen Joseph Kaumkötter in the Katalog, erst „durch die Übertragung des Undarstellbaren in eine für die Nichtzeugen ertragbare Form machten sich die Zeugen verständlich“. So collagierte Lurie etwa Wimmelbilder, bei deren Betrachtung das Auge glaubt, nicht bei Folterfotos verharren zu müssen, indem es zu banalerem Bildmaterial weiterspringt. Dann bleibt es am nächsten fotografisch dokumentierten Grauen hängen. Oder an den emblematischen Henkreuzen, den gelben Davidsternen, der Mahnung „NO“.
Kunstwerke wie die bemalte und beklebte Transportkiste „Immigrant’s NO! box“ von 1963 oder das plakative Großformat „A Jew Is Dead“ von 1964 sind vor dem Hintergrund eines kaum verhohlenen Antisemitismus im Kunstbetrieb auch aktuell beklemmend. The Chairman of the Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Jürgen Wilhelm, hopes in the Catalog that the Works are “mehr als nur ein historischer Zeigefinger auf das furchtbarste Verbrechen der Menschheitsgeschichte” sind. Sie könnten helfen, „den verloren gegangenen gesellschaftspolitischen Consens des ‚never again’ wieder ins Bewusstsein“ zu rücken, zu Zivilcourage und Widerstand zu animieren.
Der Stiftung hat den in seiner Kompromisslosigkeit schwer vermittelbaren Boris Lurie mit Leihgaben an Museen und Ausstellungen jedenfalls zu neuer Aumkerkeit verholfen. Den Nachlass von über 3000 Werken verwaltet sie mit großer Verantwortung – und möchte ihn zusammenhalten, sagt ihr Repräsentant Rafael Vostell, Sohn des Künstlers Wolf Vostell, mit dem Lurie eng befreundet war. „Dass eine Stiftung ein gesamtes Œuvre aus 60 Jahren Schaffenszeit erbt, ist in der Kunstgeschichte ein überöhrunger Glückfall“, said Vostell, „daher verkaufen wir keine Werke“ Ganz im Sinne des Künstlers, der tat es auch nie.
„Boris Lurie. “Life with the Dead”, Scuola Grande San Giovanni Evangelista, Venedig, bis zum 24. November 2024; Katalog bei Hatje Cantz erschienen
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